Plenarprotokoll 19/11 5.Mai 2022
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Worum geht es am 1. Mai? – Der 1. Mai ist nicht
nur Baumblüte, Hexenbesen, Friedensdemo, nein, in Berlin ist der 1. Mai vor allem ein politischer Tag. Und
wie der Massenpartytourismus nach Kreuzberg mittlerweile eine Berliner Tradition ist, so ist es auch das Herbeireden von Sodom und Gomorrha durch die Opposition.
– Herr Balzer hat es auch gerade bewiesen. Aber hören Sie erst mal zu!
Jahrzehntelang war dies sogar die Linie des Senats und der Berliner Polizei. Erfolgreich waren sie damit nicht.
Daher ist dieser friedliche 1. Mai keine Selbstverständlichkeit, sondern auch ein Erfolg guter Arbeit.
Blicken wir in die Vergangenheit: Seit 1987 gab es massive Ausschreitungen zwischen Demonstrantinnen und
der Polizei. Straßenschlachten und brennende Barrikaden wurden zu symbolischen Bildern des 1. Mai in Berlin.
Polizei und Autonome, zunehmend auch Krawalltouristen, spielten Katz und Maus. Heute bilanzieren wir diese
Geschehnisse als komplettes politisches Fehlverhalten, und das zu Recht.
Erst seit dem Myfest gelang seit 2003 von Jahr zu Jahr eine weitgehende Befriedung der Situation in Kreuzberg,
übrigens in erster Linie auf Initiative der Bewohnerinnen. Sie hatten die Nase voll von Tränengas und Knüppeln
und haben diese ersetzt durch Techno und Köfte, und das mit Erfolg.
Die Bilanz der letzten Jahre ist eindeutig: Die Befriedung des 1. Mai ist gelungen. Befriedung, das
ist aber nicht nur Party; der 1. Mai war und ist ein politischer Tag, und er soll es auch bleiben. Es ist der Tag, an
dem die laute Berliner Zivilgesellschaft zu Zehntausenden auf die Straße geht und Forderungen an die Politik
stellt, sei es auf der traditionellen Kundgebung des DGB, sei es mit dem Fahrrad auf der A 100, der kreativen Demo im Grunewald, die sich mit ihrem aufsuchenden sozialarbeiterischen Ansatz um den Villenbrennpunkt bemüht,
oder eben auch in kleinen Aktionen im Kiez.
Das ist ein gutes Zeichen für eine demokratische Stadtgesellschaft; darauf
können wir stolz sein.
Auch die Revolutionäre-1.-Mai-Demo gehört mittlerweile zum festen Bestandteil des Versammlungsgeschehens.
Insgesamt nahmen dieses Jahr über 40 000 Menschen an der politischen Meinungsbildung in dieser Stadt teil. Ich
kann das Fazit vorwegnehmen, es ist bekannt: Die gute Vorbereitung und eine deeskalative Grundhaltung haben
sich als richtige Entscheidung erwiesen. Dieser 1. Mai war der friedlichste seit Jahrzehnten. Dafür gilt unser
Dank der Feuerwehr, Polizei, den Rettungsdiensten und nicht zuletzt der BSR für das Aufräumen am Tag danach.
Trotz aller Befürchtungen verlief die Walpurgisnacht weitestgehend ruhig. Dabei gehören Hausbesetzungen,
die auf Wohnungsleerstand aufmerksam machen, oder auch feministische Demos in einer Metropole wie Berlin
schlicht dazu. Die CDU sucht die ganze Zeit nach Extremisten. Liebe CDU! Auch wenn diese Demos nicht in Ihr
Weltbild passen, kommen Sie damit klar, auch dit is Berlin! Nur weil Ihnen die Forderung nicht passt, ist sie
noch lange nicht extremistisch.
Politischer Protest heißt übrigens für Regierungen nicht nur Lob. Ich habe großes Verständnis dafür, dass auch bei
der traditionellen Kundgebung des DGB die hohe Erwartung an unseren Senat und diese Koalition zur Umsetzung
des Volksentscheids „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ deutlich gemacht wurde.
Deshalb haben wir einen Auftrag an die Expertinnenkommission gegeben, nun rechtssichere Wege für die
Umsetzung eines Gesetzes zur Vergesellschaftung – Sie grinsen, Herr Czaja! –, wie sie das Grundgesetz vorsieht,
zu benennen und zu bewerten.
Wir als Parlament tragen letztendlich die Verantwortung, diesen Volksentschied, dem 59 Prozent der Berlinerinnen
ihr Ja-Wort gegeben haben, umzusetzen.
An dieser Stelle muss ich aber auch deutlich sagen, dass all das dennoch nicht jede Form des Protests rechtfertigt.
Das berühmt gewordene „Giff-Ei“ war weder lustig noch akzeptabel. So führt man keinen Diskurs unter Demokratinnen; das ist einfach nur idiotisch.
Frau Giffey! Gut, dass Sie es immerhin mit Humor nehmen. Als Bürgermeisterin verarbeiten Sie die Eier, so
stand es im „Checkpoint“, zu Berlinern oder Pfannkuchen – ich weiß es nicht ganz genau.
Am Abend dann gab es weitere Aufregung um die Demo aufgrund des Slogans „Ganz Berlin hasst die Polizei“.
Daher auch an dieser Stelle noch mal zum Mitschreiben:
Es ist allgemein bekannt, dass nicht ganz Berlin die Polizei hasst. Tatsächlich genießt sie in unserem Land glücklicherweise ein hohes Vertrauen. Aber auch hier, liebe Opposition, liebe CDU: Kritik an Polizeihandeln ist in
einer Demokratie erlaubt. Sie ist sogar nötig, um Akzeptanz zu schaffen. Auch wenn sich in den letzten Jahren
viel getan hat: Eine transparente Fehlerkultur und eine lernende Behörde sind keine Schande, sondern der Inbegriff einer modernen Hauptstadtpolizei.
Egal ob randalierende Nazis in Zwickau – übrigens waren auch Berliner dabei – oder der Tod nach einem Polizeieinsatz in Mannheim, diese Dinge zeigen uns erst recht, nur, wer aus Fehlern lernt, schafft Vertrauen.
Es geht am 1. Mai auch nicht darum, dass die Polizei Stärke beweist, sondern dass sie das friedliche Versammlungsrecht gewährleistet.
Das gilt genauso für Protest an Orten, die in dieser Stadt Gegenstand politischer Debatten sind. Dazu gehört auch, dass Kritikerinnen einer Kotti-Wache eben genau dort mit einer Versammlung vorbeiziehen. Auch das ist gelebte Demokratie, und wie der Sonntag gezeigt hat: Wir halten das auch aus.
Es ist aber auch Aufgabe einer Regierung, sich dieser Kritik zu stellen. Bei allem Verständnis dafür, dass Polizeiarbeit zukünftig noch besser werden soll und muss: Wir werden nicht alle tatsächlichen und projizierten Probleme am Kotti durch die Polizei lösen können. Deshalb weiß diese Koalition auch, dass es dort ein ganzheitliches Konzept braucht. Klar muss aber sein: Wir machen keine Schaufensterpolitik, und das heißt, es braucht endlich den angekündigten Runden Tisch mit
den Akteuren am Kotti.
Ich war als parlamentarischer Beobachter bei der Revolutionären-1.-Mai-Demo mit dabei. Die Demo war divers,
und ich möchte auch gar nicht alles in einen Topf werfen, dennoch darf sie keine Bühne für alles sein. Nur, weil
bestimmte antiisraelische Parolen vermeintlich nicht strafrechtsrelevant sind, ist das keine Entschuldigung. Es
gab Antisemitismus, und das war deutlich zu spüren. Es gibt Grenzen, und wenn diese nicht gezogen werden,
dann ist das für die Revolutionäre Demo ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Für mich und meine Fraktion ist die Haltung ganz klar: Wir verurteilen jede Form von Antisemitismus. Hier gibt
es nichts zu diskutieren. Dieser Konsens wird nicht aufgekündigt, nicht heute, nicht morgen, nie wieder.
Ich habe zu Beginn gefragt: Worum geht es denn am 1.Mai? – Natürlich können wir uns den ganzen Tag über
Polizeieinsätze, Partys im Park, Eierwürfe, Müllberge oder brennende Mülleimer unterhalten. Doch ich möchte
meine Redezeit nicht nur für Polizeitaktik, sondern vor allem für Politik nutzen. Eigentlich müsste der 1. Mai
aktueller sein denn je, sei es durch die Pandemie oder die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die
Ukraine. Die soziale Lage hat sich für viele Menschen massiv verschlechtert. Die Ungleichheit bei Einkommen
und Vermögen wächst ungebremst. Diskriminierung, nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, beraubt ohnehin benachteiligte Gruppen ihrer sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe, und nebenbei schreitet die Klimakrise unaufhaltsam voran. Steigende Lebensmittelpreise lassen sich eben nicht mit dem Hartz-IV-Satz von 5 Euro am Tag bewältigen. Die Frage nach dem Arbeitsplatz von morgen erleben viele Menschen nicht nur als Chance, sondern vor allem als Risiko. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die wir auch hier bereits längst als systemrelevant anerkannt haben, sei es im Supermarkt oder in der Pflege,
warten weiter auf echte Entlastung. Für diese Herausforderungen bräuchte es doch fast eine kleine Revolution. Es
braucht starke Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte, echte soziale Absicherung, starke Gewerkschaften
und Betriebsräte, die gezielt Lohndumping bekämpfen und Tarifbindung sichern, die Anpassung des gesetzlichen Mindestlohns und gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Meine Güte! Der Wirtschaft kann es doch nur gut gehen, wenn es den Menschen gut geht.
Der 1. Mai ist mehr als Bierflasche, Pflasterstein oder Polizei. Der 1. Mai ruft nach Gerechtigkeit, Frieden,
Solidarität und Zusammenhalt. Also lassen Sie uns zukünftig diesen Feiertag noch stärker dafür nutzen, die
Debatten zu führen, die wirklich zählen. Lassen Sie uns den Wandel der Arbeitswelt im solidarischen Miteinander
gestalten und die Herausforderungen bei Klimaschutz, Digitalisierung und Globalisierung gemeinsam bewältigen.
Wenn ich zum Abschluss noch einen Wunsch mit Blick auf das nächste Jahr äußern darf: Protest und Party können wir mittlerweile ganz gut zusammen. Nutzt die Straßen zum Tanzen, für starke politische Botschaften, aber,
wie die Polizei auch am Sonntagabend zum Abschluss sagte, nehmt bitte anschließend euren Müll wieder mit! –
Vielen Dank!