Plenarprotokoll 19/6
10. Februar 2022
Vasili Franco (GRÜNE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist heute meine erste Plenarrede, aber nicht
der erste Klimaprotest, mit dem ich mich beschäftige.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Derya Çağlar (SPD)]
– Ruhig, ruhig! Ich habe nur zehn Minuten. – Eine meiner ersten Demonstrationen war 2009 gegen das Revival
der Atomkraft in Gorleben.
[Marc Vallendar (AfD): Schlecht fürs Klima! – Zuruf von Stefan Evers (CDU)]
Der berechtigte Protest der Generation vor mir wurde sogar noch mit Wasserwerfern und Schlagstöcken beantwortet. Doch ich bin froh, dass die Anti-Atomkraft- und die Umweltbewegung, dass die Aktivistinnen von damals
nicht lockergelassen haben und wir in dieser hochemotionalen Frage heute einen gesellschaftlichen und einen
politischen Konsens haben.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Nicht mehr lange!]
Wieder ist es emotional, und es ist wieder der Klimaschutz. Klar ist dabei: Das verbriefte Grundrecht der
Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut. Es ist essenziell, um das Versprechen einer lebendigen Demokratie mit
Leben zu füllen, denn Politik wird nicht nur alle fünf Jahre am Wahltag entschieden, sondern jeden Tag: mit
Petitionen, mit Veranstaltungen und eben auch auf der Straße.
Berlin ist nicht nur Bundeshauptstadt, sondern auch Demonstrationshauptstadt. Jährlich finden bei uns 5 000
Demonstrationen statt. Die Themen sind dabei bunt und vielfältig wie unsere Stadt selbst, und das ist auch gut so.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]
Dass nun ausgerechnet Sie am rechten Rand versuchen,
versammlungsrechtliche Sachverhalte moralisch einzuordnen, verlangt schon eine gewisse Dreistigkeit. Sie
können ja nicht mal Spaziergänge von verbotenen Demonstrationen unterscheiden.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Beifall von Tom Schreiber (SPD)]
Rechnen können Sie auch nicht, wenn Sie mit Ihren 8 Prozent meinen, für das Volk sprechen zu können. Sie
hätten nicht nur im Matheunterricht, Sie hätten auch beim Versammlungsrecht besser aufpassen sollen. Aber was
will man schon erwarten?
[Marc Vallendar (AfD): Es geht um gefährliche Aktionen auf der Autobahn!]
Sie heißen es gut, wenn Menschen mit nachgemachten Davidsternen mit der Aufschrift „ungeimpft“ auf die
Straße gehen, die Maskenpflicht ignorieren und das Abstandsgebot weder räumlich noch politisch einhalten.
[Frank-Christian Hansel (AfD): Fehlanzeige!]
Sie verstehen sich, haben Sie selbst gesagt, als parlamentarischer Arm dieser Bewegung – alleine dadurch haben
Sie sich für jeglichen Diskurs qualifiziert!
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD – Frank-Christian Hansel (AfD): Totale Fehlanzeige!]
Deshalb kommen wir jetzt zurück zur Sache und schauen uns an, was genau die letzten Tage so los war: Die Stadt ist in Aufruhr. Geschickt gemacht – was bringt Deutschland mehr in Rage als Fragen über Autobahnen?
Aber von Anfang an: Wer? Wo? Was? Warum? – Das ist die Grundlage jeder Sachdebatte. „Essen retten, Leben
retten“ ist eine Initiative, die bundesweit mit verschiedenen Aktionsformen auf Lebensmittelverschwendung
aufmerksam macht. Seit Ende Januar führt sie bundesweit Straßenblockaden durch, teilweise klebten sich Aktivistinnen an den Asphalt, von der 19-jährigen Carla bis zum 72-jährigen Ernst; es ist eine heterogene Gruppe.
In Berlin – es wurde genannt – gab es circa 30 Aktionen, unter anderem an der A 100 und der A 103. Autofahrer
reagierten teilweise mit Gewalt, zerrten Aktivistinnen von der Straße, ein Autofahrer schlug am 26. Januar einer
Frau mit der Faust ins Gesicht und beschimpfte sie. Einige Personen sind derzeit in Haft, eine dreistellige Zahl
von Personen wurde vorläufig bei den Aktionen festgenommen, es laufen aktuell über 200 Verfahren.
[Zuruf von Florian Kluckert (FDP)]
Besondere Aufmerksamkeit, und auch das wurde heute genannt, gab es bei einer Blockade, die die Zufahrt zum
Virchow-Klinikum am 4. Februar betraf. Das hatte nicht nur, wie vielerorts, Auswirkungen auf den Berufsverkehr,
sondern führte auch für Rettungsfahrzeuge zu längeren Zufahrtswegen.
So weit die nüchterne Betrachtung, aber keine Angst: Ich kann auch etwas politischer. Die Beurteilung der letzten
Tage ist einmal eine Frage der Legalität und einmal eine Frage der Legitimität. Diese wichtige Differenzierung
kam mir bisher zu kurz. – Zur Legalität: Autobahnen sind kein rechtsfreier Raum. Auch das Versammlungsrecht
aber schließt Autobahnen per se nicht als Ort einer Demonstration aus. Es wäre doch auch eine Farce, wenn
man nur dann demonstrieren dürfte, wenn es keinen stört oder es niemand mitbekommt.
[Beifall bei den GRÜNEN – Dr. Kristin Brinker (AfD): Sie rufen hier also zum gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr auf, oder wie?]
Nun kann man viele Fragen stellen: Hätten die Demonstrationen zwingend angemeldet werden müssen? Welche
Aktionen waren rechtmäßig, welche waren es nicht?
Welche der Blockaden sind strafrechtlich als Nötigung zu werten? – Fragen stellen sich aber genauso in den anderen Fällen, in denen Autofahrer handgreiflich und gewalttätig wurden. Mich schockiert es dabei erst recht, wenn ich sehe, wie viele Menschen im Netz diese Form von Selbstjustiz gutheißen, denn eins sollte doch klar sein:
Polizeiliche Maßnahmen obliegen nicht wütenden Autofahrern, sondern der Polizei als ausführendem Arm des staatlichen Gewaltmonopols.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Dr. Kristin Brinker (AfD): Warum sind die Autofahrer denn so wütend?]
Dennoch kein Grund zur Panik: Das Versammlungsrecht wird angewendet, auch bei Verstößen, das Strafrecht
bleibt davon unberührt und wird auch nicht unterlaufen.
Aber Strafen rufen wir hier nicht pauschal vom Rednerinnenpult aus; über diese entscheiden immer noch Gerichte. Das nennt sich Rechtsstaat.
[Beifall bei den GRÜNEN – Beifall von Anne Helm (LINKE) und Sebastian Schlüsselburg (LINKE)]
Nun zur Legitimität: Ich kann verstehen, dass nicht wenige Menschen in den letzten Tagen unabhängig davon, ob
sie dieses Anliegen gut oder schlecht fanden, ziemlich genervt, gestresst oder verärgert waren. Das ist nachvollziehbar, das ist auch legitim. Ist deshalb eine Autobahnblockade illegitim? – So einfach ist es eben nicht. Das lässt sich nicht einfach gegeneinander aufwiegen. Auch der pauschale Vorwurf der Rücksichtslosigkeit ist nicht haltbar.
[Dr. Kristin Brinker (AfD): Nicht zu fassen!]
Ich persönlich finde es auch richtig, dass die Proteste nach dem schrecklichen Mord an zwei Polizeidienstkräften in Rheinland-Pfalz eigeninitiativ eingestellt wurden. Und es sei Ihnen unbenommen, auch die Art und Weise
der Methodenkritik; auch diese bleibt erlaubt. Ich persönlich halte zivilen Ungehorsam zunächst für ein legitimes Mittel.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]
Ja, das gilt nicht uneingeschränkt. Selbstverständlich muss Protest friedlich sein, selbstverständlich darf dieser
keine Menschenleben gefährden, und natürlich darf es nicht sein, dass eine Demonstration dazu führt, dass der
Rettungswagen nicht mehr durchkommt.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]
Und ja, es gab Situationen in den letzten Tagen, in denen das der Fall war. Das möchte und das werde ich nicht
schönreden, aber hören Sie bitte auf so zu tun, als wäre dies überall, dauerhaft und vorsätzlich Ziel und Zweck
gewesen! Hören Sie auf, mit einem einseitigen Blick die Legitimität der Proteste abzusprechen! So etwas gehört
sich nicht, zumindest nicht unter Demokratinnen.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Dann lassen Sie es bei den Spaziergängern sein!
Das sind ganz normale Menschen!]
Präsident Dennis Buchner:
Herr Kollege Franco! Ich darf Sie fragen, ob Sie Zwischenfragen der Abgeordneten Vallendar und Brousek
von der AfD-Fraktion zulassen.
Vasili Franco (GRÜNE): Heute nicht, vielen Dank!
[Karsten Woldeit (AfD): „Heute“!]
Politischer Protest, sei er unkonventionell oder manchmal auch anstrengend, war und ist für mich selbstverständlicher Bestandteil einer gesunden Demokratie.
[Frank-Christian Hansel (AfD): Für uns auch!]
Das muss und kann man aushalten. Umso mehr finde ich die pauschale und undifferenzierte Kriminalisierung oder
die Forderung der CDU, alle Teilnehmenden dem Haftrichter vorzuführen, gelinde gesagt überzogen. Denn
selbst Ordnungswidrigkeiten oder strafbare Handlungen in solchen Kontexten sollte man nie absolut betrachten.
Vielleicht verstehen Sie es auf diesem Wege: Kurz vor Weihnachten hat ein bayerischer Jesuitenpriester ein
Strafverfahren – in eigenen Worten – provoziert. Er hatte weggeworfene Lebensmittel containert und dies öffentlich gemacht. Vielleicht ist Ihre politische Antwort an ihn die volle Härte des Gesetzes – meine ist es nicht.
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]
Die Verschwendung von Lebensmitteln ist immer noch ein unterschätztes Problem. Die AfD hat sich darüber
lustig gemacht, aber weltweit werden pro Jahr etwa 1,3 Milliarden Tonnen weggeworfen, das ist ein Drittel
aller produzierten Lebensmittel. In Europa verursachen vermeidbare Lebensmittelabfälle die gleiche Menge klimaschädlicher Gase wie die ganze Niederlande. Alleine in Deutschland werden von den privaten Haushalten Jahr
für Jahr 18 Millionen Tonnen in einem Wert von 20 Milliarden Euro entsorgt. Das muss endlich ein Ende
haben!
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]
Es liegt an uns als Politikerinnen, das zu ändern. Berlin nimmt dank Rot-Grün-Rot mit der Ernährungsstrategie
genau das in den Fokus. Auch die Ampel im Bund bringt endlich einen überfälligen Kurswechsel von der verbindlichen branchenspezifischen Reduzierung bis hin zur Entkriminalisierung des Containerns. Gerade als junger
Mensch kann ich Ihnen sagen: Ich bin so froh, dass es Aktivistinnen, Politikerinnen und Regierungen gibt, die
jetzt endlich anpacken.
[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]
Präsident Dennis Buchner:
Herr Kollege! Ich darf Sie jetzt fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Freymark aus der CDUFraktion zulassen.
Vasili Franco (GRÜNE): Ich bin doch gleich am Ende, keine Panik! Vielen Dank, ich lehne ab!
Es ist eine aufgeheizte Debatte, und ich sehe, wir werden uns hier und heute nicht einig. Aber es gibt einen ganz
einfachen Trick, eine solche Debatte in Zukunft zu verhindern. Die Lösung ist nämlich keine rein rechtliche,
sondern vor allem eine politische: Nehmen wir die Herausforderung der Klimakrise endlich an! Machen wir
Ernst bei Klimaschutz und Verkehrswende, machen wir Ernst mit Umweltschutz und Ernährungswende, und das
auf allen Ebenen! Lassen Sie uns dafür den nötigen Mut finden, genau das bringt Berlin richtig in Fahrt. – Vielen
Dank!
[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]