Aktuelle Stunde zum Berliner Wahlchaos

Plenarprotokoll 19/17

  1. Oktober 2022

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wahlen sind keine Überraschungsparty. Sie
fallen nicht alle fünf Jahre vom Himmel. Sie sind vielmehr ein Vertrauensvorschuss der Bürgerinnen und Bürger. Sie vertrauen in eine gut vorbereitete, organisierte und durchgeführte Wahl. Wir müssen feststellen: Das war bei der letzten Wahl an zu vielen Stellen nicht der Fall. Das verursachte Wahlchaos ist ein Schaden für die Demokratie, und den gilt es jetzt zu heilen.

Wahlen sind das Fundament unserer Demokratie. Das Vertrauen in Wahlen, die Richtigkeit der Ergebnisse und
die Gewissheit, dass meine Stimme genauso zählt wie die aller anderen, ist unabdingbar für das Vertrauen in unsere
Demokratie. Wir sehen doch: Autokraten und Rechtsextreme versuchen immer wieder, das Vertrauen in Wahlen
und die Zuverlässigkeit der Wahlsysteme anzugreifen. Ob Trump, Bolsonaro oder auch die AfD, sie alle versuchen,
den Wählerinnen und Wählern weiszumachen, dass es organisierten und großflächigen Wahlbetrug gäbe.
Das ist offensichtlich kompletter Unsinn. Dennoch zeigt es, welchen Stellenwert eine ordentliche, verlässliche und
vertrauenswürdige Wahl in einer Demokratie einnimmt.

Diejenigen, die nämlich nur darauf lauern, werden Wahlfehler immer instrumentalisieren, um Misstrauen zu schüren.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns hier im Parlament, der Herzkammer der Demokratie, als Vertreterinnen und
Vertreter der Berlinerinnen und Berliner unserer Aufgabe bei der Aufarbeitung des Wahlchaos 2021 bewusst stellen. Dass die Wahlfehler im letzten Jahr nicht nur auf einen Marathon zu schieben sind, sondern vielmehr das Ergebnis von strukturellen Mängeln und schlechter Planung waren, ist uns sowohl durch den Bericht der Expertinnen- und Expertenkommission als auch durch den Vortrag des Verfassungsgerichtshofs deutlich gemacht worden. Das hatten am Wahltag nicht nur die Wählenden
auszubaden, sondern auch die vielen ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer. Ich zitiere ebenfalls aus
dem Bericht der Expertinnen- und Expertenkommissionen:
Mehr als 38 000 ehrenamtliche Wahlhelferinnen und Wahlhelfer waren an diesem Tag im Einsatz
und haben unter schwierigen, zum Teil unzumutbaren Bedingungen, mit Fantasie, Geduld, Einsatzbereitschaft und Ideenreichtum aus dem verunglückten Wahltag das Beste gemacht, was unter den gegebenen Bedingungen möglich war.
Das verlangt von uns Demut: Demut vor den Wahlhelferinnen und Wahlhelfern, die ihr Bestes getan haben, um
unsere demokratischen Verfahren nach bestem Gewissen zu verwirklichen, Demut vor den Wählerinnen und Wählern, die den teils unzumutbaren Bedingungen ausgesetzt waren, und insbesondere Demut vor der Größe der Aufgabe, vor der wir jetzt alle stehen. Denn eins steht fest: In einer Demokratie muss eine Wahl perfekt organisiert sein, und bei der nächsten Wahl darf sich Berlin keinen Fehler erlauben.

Der Verfassungsgerichtshof hat in der Sitzung am 28. September nicht nur mit dem Zaunpfahl gewunken, er
hat förmlich den ganzen Zaun nach uns geschmissen. Dieses Zeichen war eindeutig. Und sollte die endgültige
Entscheidung der vorläufigen Einschätzung folgen, dann müssen und werden wir dies natürlich respektieren.
Hier und heute sollten wir dazu allerdings keine Bewertung abgeben. Juristinnen und Juristen wissen: Man kann
über alles diskutieren und auch darüber, wie gewichtet und gerichtet wird. Aber das ist nicht unsere Aufgabe.
Das ist Aufgabe der Richterinnen und Richter. Es wäre vermessen, hier zu kommentieren, was das Gericht nun
zeitnah entscheiden soll. Gerade bei dieser Frage sollten wir nicht Richterinnen und Richter spielen, sondern unserer Rolle als Legislative in der Gewaltenteilung gerecht werden.

Uns liegen nun zwei Missbilligungsanträge vor. Die CDU will – ich zitiere Mario Czaja – gleich ganz Berlin erobern. Das klingt für mich eher nach Napoleon als nach parlamentarischer Demokratie.
Es ist schon bezeichnend von der CDU, Herr Wegner, sich hier staatstragend zu geben. Gleichzeitig sind Sie die einzige Fraktion, die dem Vorschlag eines fraktionsübergreifenden Gremiums in diesem Haus zur Erarbeitung von Wahlrechtskorrekturen bislang die Teilnahme verweigert. Da frage ich mich schon: Wie ernst meinen Sie es eigentlich? Wo sind denn die konkreten Vorschläge?
Oder sind Sie schon komplett in den Wahlkampf abgebogen?

Beim Respekt gegenüber den Wählerinnen und Wählern ist Sachlichkeit das erste Gebot. Wir müssen die Ansage des Verfassungsgerichtshofs und die Ergebnisse der Expertinnen- und Expertenkommissionen ernst nehmen. Ich warne auch davor, sich hier einen schlanken Fuß zu machen und mit dem Finger auf die Bezirke oder die freiwilligen Helferinnen und
Helfer zu zeigen. All das ist nicht angebracht. All das ist fehl am Platz. Es gilt jetzt, Fehler zu beheben, Abläufe zu
verbessern und Wahlvorbereitungen gewissenhaft durchzuführen. Denn ein solches Wahlchaos darf sich nicht
wiederholen.

In einer Zeit multipler Krisen stehen wir als Parlament in der Pflicht, unseren Beitrag zu leisten. Wer jetzt stattdessen darauf spekuliert, politisch zu profitieren, der betreibt nichts anderes als Arbeitsverweigerung. Die Menschen in
Berlin erwarten von uns, dass wir Wahlfehler aufarbeiten und dafür sorgen, dass sie sich nicht wiederholen. Aber
sie erwarten mindestens genauso sehr von uns, dass wir uns um die enormen Herausforderungen kümmern, die
allgegenwärtig zu spüren sind. Es wäre fatal, wenn wir jetzt nicht handlungsfähig blieben, um notwendige Entscheidungen in einem harten Winter treffen zu können. Corona ist nicht vorbei. Fragen Sie einfach mal in den
Krankenhäusern! Die Strom- und Gasrechnungen bereiten den Menschen Angst, erst recht denen, die bereits
jetzt jeden Euro für Miete und Mahlzeiten zweimal umdrehen müssen.
Die Klimakrise wartet auch nicht aufgrund einer Zeitenwende. In einer solchen Situation werden wir es uns einfach nicht leisten können, erst einmal für ein halbes Jahr in den Wahlkampf abzutauchen.

Als Koalition – das ist unser Anspruch – werden wir auch in den nächsten Wochen und Monaten handlungsfähig
bleiben. Wir haben einen Nachtragshaushalt vor uns, der die Berlinerinnen und Berliner in Ergänzung zu den Hilfen des Bundes vor Not und vor sozialen Härten im kommenden Krisenwinter abschirmen wird. Da stehen wir als Koalition in der Verantwortung.

Ich bin daher auch der Regierenden Bürgermeisterin dankbar, dass sie sich zur Frage der Wahlorganisation
klar positioniert hat. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Ich kann dafür sorgen, jetzt wo ich politische Verantwortung habe, dass das nicht noch mal passiert, dass wir gut aufgestellt, gut organisiert in eine solche Nachwahl oder Wiederholungswahl gehen. Dafür bin ich dankbar, denn Verantwortung baut auf Vertrauen auf.

Diese Verantwortung spüren wir nicht nur, wir müssen ihr jetzt nachkommen. Verantwortung ist, aus Fehlern zu
lernen und sie nicht noch einmal zu begehen. Verantwortung bedeutet, sich nicht wegzuducken und nichts schönzureden.
In diesem Zusammenhang wundere ich mich dann schon, wenn ich aus der Presse erfahre, dass die Expertinnenund Expertenkommission einen Evaluationsbericht zu bekannten Fehleranfälligkeiten aus der vergangenen
Wahl 2017 nicht vorgelegt bekam. Scheinbar sind Prozesse versandet oder vergessen worden. Das mag möglicherweise nur der Fall sein, weil nicht mit der gebotenen Gründlichkeit gearbeitet wurde, aber definitiv kratzt auch das weiter am ohnehin angeschlagenen Vertrauen.
Daher ist auch die Neubesetzung des Landeswahlleiters nur folgerichtig. – Herr Prof. Dr. Bröchler, ich gratuliere
Ihnen zunächst einmal zu diesem Amt. Sie wissen auch als Mitglied der Expertinnen- und Expertenkommission
wahrscheinlich noch besser als wir, wie groß diese Aufgabe ist. Sie attestieren eine Diskrepanz zwischen Problemerkennung und Problembeseitigung. Dass Sie dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen antreten, verlangt großen Respekt. Ich kann Ihnen die notwendige Unterstützung zusichern. Wir im Abgeordnetenhaus werden alles dafür tun, dass die kommende Wahl gut gelingt.

Daher gilt es jetzt, folgende Schritte zu gehen: Erstens müssen wir anerkennen, dass vollständige Wiederholungswahlen ein wahrscheinliches Szenario sind. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Vermeidbare Fehler müssen
vermieden werden. Zweitens müssen wir die Ergebnisse und Empfehlungen der Expertinnen- und Expertenkommission ernst nehmen und vor allem die kurzfristigen Maßnahmen in der Wahlorganisation konsequent umsetzen. Drittens werden wir uns fragen müssen, welche langfristigen, auch gesetzlichen Änderungen es braucht. Nur wäre es an dieser Stelle ein Fehler, bereits vor einer Gerichtsentscheidung eine umfassende Gesetzesreform zu beschließen, die im Zweifel unmittelbar vor einer Wiederholungswahl nur für noch mehr Chaos sorgen würde. Und wir müssen nicht zuletzt dafür sorgen, dass
es kein Verantwortungspingpong zwischen Land und Bezirken gibt. Gerade bei Wahlen gilt: Bezirke und Land
Hand in Hand!

Letztendlich kostet uns alle jeder Wahlfehler Vertrauen bei den Berlinerinnen und Berlinern.
Abschließend möchte ich deshalb einen Appell zitieren, mit dem es Herr Bröchler zu seinem Amtsantritt auf den
Punkt gebracht hat:
Das Amt des Landeswahlleiters ist keine OneMan-Show. Soll das Ziel gute Wahlen gelingen,
bedarf es einer nachhaltigen Unterstützung des Senats, des Abgeordnetenhauses von Berlin, der
zwölf Berliner Bezirke, der politischen Parteien und des tatkräftigen Engagements der Berliner
Bürgerinnen und Bürger.
Ich hoffe, alle Verantwortungsträger und -trägerinnen dieser Stadt übernehmen ihren Teil der Verantwortung.
Dann gewinnen wir gemeinsam das Vertrauen in unsere Wahlen und unsere Demokratie zurück. – Vielen Dank!