1. Mai in Berlin – Aktuelle Stunde im Plenum

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Wunder ist geschehen! Kaum drei Tage ist
Schwarz-Rot im Amt, da wird der diesjährige 1. Mai so ruhig wie noch nie. Der Linksextremismus ist besiegt, ein
Hoch auch den neuen Senat!

Da haben Sie ja ein schönes Märchen aufgebaut, Herr Dregger! Aber Märchen sind bekanntlich Fantasiegebilde; ich hole Sie gerne wieder zurück in die Realität. Man singt zwar: „Wunder gibt es immer wieder“, aber ich
muss Sie leider enttäuschen: Ein Wunder war das nicht, ganz im Gegenteil.
Der diesjährige 1. Mai, fast ohne Zwischenfälle und damit noch ruhiger als der letztes Jahr – das ist ein Grund
zur Freude, das stimmt, aber das liegt weder am Lächeln von Herrn Wegner noch am Lächeln von Franziska Giffey, nein, es ist das Ergebnis einer jahrelangen Deeskalationsstrategie, die zu dieser Entwicklung geführt hat.

Es ist das Lernen aus den Fehlern von 1987, als Knüppel und Wasserwerfer die Antwort des Senats waren. Gut, dass wir diese Ära überwunden haben. Ich war auch dieses Jahr wieder als parlamentarischer Beobachter vor Ort,
und ich kann bestätigen: Deeskalation zahlt sich aus. Zur Wahrheit gehört auch: Ruhig war der 1. Mai vor allem für die Menschen, die nicht in Neukölln oder Kreuzberg wohnen und die nicht bei Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, in den Rettungsstellen oder bei der BSR arbeiten. Für die dort Beschäftigten war dieser 1. Mai kein Feiertag, sondern Akkordarbeit. Statt zu feiern, leisten sie vollen Einsatz für Berlin, dafür vielen Dank!

„Guter Verlauf des 1. Mai“ lautet die Anmeldung für die Aktuelle Stunde. Woran messen wir denn einen guten 1. Mai? Ist die Anzahl an eingesetzten Polizistinnen und ausbleibende Gewalt alles, was zählt? – Ich hoffe nicht.
Vergessen wir nicht: In erster Linie ist der 1. Mai der Tag der Arbeit.
Er ist geprägt von Demonstrationen und Kundgebungen, die glücklicherweise auch in den letzten Jahren immer
diverser und kreativer geworden sind. Es ist gut, dass wir statt über Gewalt mehr über Politik reden. In einer Zeit
von Unsicherheit, Existenzängsten und gleich mehreren Krisen brauchen wir lauten Protest für mehr Gerechtigkeit und Solidarität!

– Die CDU anscheinend nicht. Die traditionelle Kundgebung des DGB zog wie immer
einige Tausend Menschen an. Höhere Löhne in Zeiten von Inflation, mehr Tarifbindung, bessere Arbeitsbedingungen: Es darf doch nicht zu viel verlangt sein, angemessen bezahlt zu werden und gesund arbeiten zu können. Für viele Berlinerinnen ist das jedoch noch lange nicht Realität. – Ihr Vorstoß, Frau Senatorin Kiziltepe, in der Berliner Verwaltung eine Viertagewoche einzuführen, war in der Hinsicht daher ein guter Schritt nach vorne, doch Ankündigungen und Prüfaufträge sind noch
lange keine Taten.

Kein Wunder, dass Ihr zukunftsweisender Vorschlag es nicht in den Koalitionsvertrag der Rückschrittskoalition geschafft hat. Für eine Schlagzeile reicht’s, passieren wird nichts.
Und selbst das, was im Koalitionsvertrag steht, ist erst mal alles nur eine Ankündigung. Kommt sie denn jetzt, die Ausbildungsplatzumlage – also vielleicht, wenn die Wirtschaft das möchte und ihren Segen gibt –, oder ist
das auch nur ein weiterer Prüfauftrag für die Schublade? Der Grundsatz Gute Arbeit gilt unter Schwarz-Rot wohl
nur für die Büroleitung der Senatorinnen. Pech gehabt, Berlin!

Doch zurück zum 1. Mai. Die „Revolutionäre 1.-Mai-Demo“ – Herr Dregger war wohl nicht vor Ort, sonst hätte er es anders geschildert – gehört mittlerweile fest zum Programm und zieht große Menschenmassen an, darunter immer mehr Schaulustige und Touristinnen auf der Suche nach dem großen Open-Air-Spektakel. Streckenweise fragt man sich da schon, wer in der Überzahl ist: linke Protestgruppen oder diejenigen, die am Randstehen und auf Sensationen warten. Aber egal, wie sehr
die lieben Kollegen von rechts außen versuchen das Bild von linksextremistischen gewaltbereiten Massen im Vorfeld herbeizureden. Wir alle haben es gesehen: Die gibt es nur in Ihren Köpfen.

Dennoch, ein Déjà-vu vom letzten Jahr wirft einen Schatten: Auch dieses Jahr waren wieder antiisraelische und antisemitische Parolen zu hören. Ich halte die Toleranz für die Teilnehmer an der Demonstration für falsch. Bei aller berechtigten Kritik an der israelischen Regierung gerade in diesen Zeiten: Es ist und bleibt unerträglich, wenn „From the River to the Sea“-Rufe skandiert werden und Israel auf Bannern als Apartheidsstaat bezeichnet wird.
Erst gestern meldete die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin 848 antisemitische Vorfälle
im letzten Jahr. Das dürfen und werden wir nicht hinnehmen. Bei Antisemitismus gibt es keine Spielräume,
nicht am 1. Mai, genauso wie an keinem anderen Tag im Jahr.

Politisches Highlight des Berliner 1. Mai ist seit einigen Jahren die MyGruni-Demo, dieses Jahr unter dem Motto: „Kohle abbaggern im Tagebau Grunewald“. Protest geht kreativ, offensiv und friedlich.

Herr Wegner! Sie haben doch angekündigt, die Stadt zusammenführen zu wollen. Es gäbe doch keinen geeigneteren Ort als diese Demonstration. Wo waren Sie denn? Waren sie noch beschäftigt, die eigene Koalition nach dem Wahldesaster vor zwei Wochen zusammenzuführen?
[Regierender Bürgermeister Kai Wegner:
Ich hatte keine Einladung!]
– Ja, das holen wir jetzt nach! Ich hoffe doch, wir sehen uns dann nächstes Jahr im Grunewald.
Wunderbar! Wir Grüne unterstützen Sie gerne dabei, die Spaltung in der Stadt zu beenden durch sozial gerechten
Abbau fossilen Kapitals für eine solidarische Gesellschaft und konsequenten Klimaschutz. Da sind wir auf jeden
Fall dabei, Herr Wegner, ganz nach dem Motto: „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“. Wir schaffen das zusammen!

Ich will jetzt auch nicht zu fortschrittlich für die Rückschrittskoalition werden, aber das mit der Einladung zur
Demo war wirklich ernst gemeint, Herr Wegner!
[Regierender Bürgermeister Kai Wegner: Ich freue
mich drauf!]
– Wunderbar! – Zurück zum Thema: Etwas Kritik bleibt Ihnen dann doch nicht erspart, schließlich kann man aus
jedem Fehler lernen und es nächstes Jahr ein bisschen besser machen. Mindestens 28 000 Menschen nahmen
dieses Jahr an Versammlungen und Demonstrationen in ganz Berlin teil, demgegenüber standen 7 100 Polizistinnen und Polizisten, die im Einsatz waren, ein gutes Drittel davon aus anderen Bundesländern. Das bedeutet ein
Betreuungsschlüssel von einer Einsatzkraft auf vier Demonstrierende. Es sind übrigens 1 000 Einsatzkräfte mehr
als im vergangenen Jahr. Warum eigentlich? – Zumindest mir waren keine Gefährdungslagen bekannt, die das erforderlich gemacht hätten, ganz im Gegenteil, wir stellen seit Jahren eine kontinuierliche Befriedung mit klarem
Rückgang von Zwischenfällen fest,

stattdessen in diesem Jahr noch mehr Hundertschaften. Das mag vielleicht für Pressefotos gut wirken, wenn
Demos eng mit Helm und Montur begleitet werden, doch das ist eben nur ein Teil des Bildes des 1. Mai. Unter
diesen Monturen stecken Menschen, die hier Überstunden leisten und vielleicht lieber am 1. Mai auch bei ihren
Familien wären, statt als Fotokulisse zu dienen, zudem hilft ein Kommunikationsteam, das auch ganz ohne Montur auskommt, an mancher Stelle mehr als eine zusätzliche Hundertschaft. Das reicht dann vielleicht nicht für gute Pressefotos, aber die Leute machen wirklich einen richtig guten Job und nicht nur am 1. Mai, auch dafür vielen Dank!

Insgesamt, das muss man so festhalten, waren die Einsatzkräfte gut vorbereitet, professionell, ruhig und koordiniert, auch das trug zu wenigen Vorfällen bei. Die Polizei hat ihren Beitrag geleistet, und das kann man auch anerkennen. Das befreit dennoch nicht davon, die verbleibenden Fragen anzusprechen. Die versuchte Räumung der Oranienstraße nach dem Ende der Demo war
schlicht unnötig. Es ist ja auch keine Überraschung, dass bei bereits dicht gedrängten Gehwegen wenig Platz für
diejenigen ist, die genau deshalb auf die freie Straße ausweichen. Und ob sich das aggressive Verhalten von
Einsatzkräften aus Mecklenburg-Vorpommern im rechtlichen Rahmen bewegte, wird untersucht. Das ist gut und richtig, denn jedes Fehlverhalten, das nicht aufgearbeitet wird, schadet all jenen Polizistinnen und Polizisten, die an diesem Tag den Einsatz professionell und abgeklärt gemeistert haben.

Deeskalation, Kommunikation, polizeiliche Zurückhaltung sind der Garant, dass friedlich gefeiert und demonstriert werden kann. Wir müssen dazulernen, damit das auch so bleibt, deshalb mit Blick auf das nächste Jahr.
Einige von Ihnen haben ja das Maifest vermisst, ich als Friedrichshain-Kreuzberger übrigens nicht, denn hier
kann beim besten Willen nicht die Rede von einem ruhigen 1. Mai sein. Das Maifest hat, das stimmt, seinen
wertvollen Beitrag zur Befriedung des 1. Mai beigetragen, aber das viele Kreuzbergerinnen und Kreuzberger
nicht nur Freude empfinden, ist genauso klar. Dass mein Bezirk am Tag danach auch ohne Gewalt wie ein
Schlachtfeld aussieht, ist kein schöner Anblick. Sie haben sicherlich alle die Bilder von den Müllbergen, den Glasflaschen, den Urinpfützen gesehen. Die BSR hat hier zwar tolle erste Hilfe im Rekordtempo geleistet, aber was glauben Sie, wie gut sich Glasscherben aus Grünflächen und Sandkästen entfernen lassen, oder wie viele Liter Urin ein Busch verträgt, bevor er eingeht? – Wir brauchen nicht noch ein Maifest obendrauf, wir brauchen ein richtiges Gesamtkonzept.

Kreuzberg ist am 1. Mai mittlerweile für viele Berlinerinnen und Berliner Tradition. Die Rolle als Publikumsmagnet können wir nicht wegzaubern, aber wir sollten es nicht noch größer machen. Wir sollten auch dafür sorgen, dass es für alle, die dort leben, ein friedliches Fest bleibt.
Es ist also auch nächstes Jahr kein Selbstläufer, denn es werden wieder viele Menschen auf den Straßen sein, um
zu demonstrieren oder um zu feiern.
Eine Forderung habe ich noch an den Senat, es braucht nämlich seine Unterstützung für die Bezirke Friedrichshain Kreuzberg und Neukölln, damit wir einen sicheren 1. Mai auch nächstes Jahr hinbekommen, darum an dieser Stelle abschließend ein Wunsch, so spannend polizeiliche Einsatzlagen sind, und ich auch dieses Jahr wieder gern hier rede: Ich würde mich freuen,
wenn wir nächstes Jahr dem 1. Mai wirklich gerecht werden, indem wir hier keine innenpolitische Debatte,
sondern eine über gute Arbeit, Gerechtigkeit und Solidarität führen. – Vielen Dank!